Der Aufmerksamkeits-
crash
Als unsere Vorfahren anfingen Wert zu virtualisieren, nutzten sie Münzen aus Edelmetallen. Das Material der Münzen war selten und sorgte so dafür, dass der Geldwert stabil blieb und die Zahlungsmittel akzeptiert wurden. Mit der Gründung der Bank of England im Jahr 1693, der ersten Zentralbank, begann das, was die Ökonomen „Geldillusion“ nennen. Die Tatsache, dass ein Stück bedrucktes Papier eine solch starke Gewissheit ausstrahlt, dass ganze Gesellschaften dieser Scheinproduktion Glauben schenken und ihr gesamtes wirtschaftliches Handeln nach dieser Illusion ausrichten.
Der Aufrechterhaltung dieser Illusion widmen sich die staatlichen Zentralbanken, in den Euro-Ländern heute die Europäische Zentralbank (EZB). Und das ist gar nicht so unaufwändig, man denke nur an die Verzweiflungstat des Negativzinses oder die so plötzlich, aber angesichts der Geldflut der Zentralbanken nicht wirklich überraschende, rasant gestiegene Inflation.
Ein Zusammenbruch des Glaubens an die Währung, das wissen die Beteiligten, würde zwangsläufig zum kollektiven Crash der Volkswirtschaft führen. Also stand schon immer die Frage im Raum: Wie hält man die Währung stabil? Wie bleibt das Geld wertvoll?
Für viele Jahre versuchte man es mit der Golddeckung. Bis man merkte, dass die Barren in Fort Knox nie und nimmer ausreichen würden, um die emittierten Dollar tatsächlich zu spiegeln. Und mit dem Wegfall der Golddeckung musste auch dem naivsten Teilnehmer am System Wirtschaft klar sein: Das ganze Konstrukt der Ökonomie beruht auf nichts weniger als gemeinsamem Glauben. Eine Zeitlang wurde das mehr oder weniger ignoriert. Erst an der Schwelle zur Internet-Ära stellte der Ökonom Georg Franck die Frage: „Was ist knapp?“ Denn wenn nicht mehr Gold das Maß aller wertvollen Dinge ist, was ist es dann?
Und Francks schlichte Antwort lautet: Das Einzige, was sich in der digitalen Gesellschaft nicht vervielfältigen lässt, ist die Aufmerksamkeit des Konsumenten.
Der Kulturtheoretiker Martin Burckhardt beschreibt Georg Francks „Aufmerksamkeitsökonomie“ so: „Man kann nicht gleichzeitig zwei Filme anschauen oder sich mit voller Konzentration der Lektüre zweier Bücher widmen. Folglich lässt sich die psychische Investition als eine Form der Wertschätzung auffassen (to pay attention, wie es im Englischen heißt und sich im Deutschen als Aufmerksamkeit zollen wiederfindet). Gut ist, was Quote macht.“
Damals, in den 1990ern, erkannte man zwei Dinge: Es ist zum einen möglich, die Mehrwertbildung ganz auf die Seite des Konsumenten zu verlagern. Heute heißt die ultimative Form dieser produktiven Verlagerung „user generated content“.
Ein zweiter bemerkenswerter Punkt ist die Beobachtung, dass der Konsument, mit dem interagiert ist, nicht der natürliche Mensch ist, sondern sein „digitaler Schatten“, der „vermessene Mensch“ (Burckhardt), dessen Vermessung erst mit dem Siegeszug des Internets möglich wurde. So entsteht eine ganz neue Form des Humankapitals, die Martin Burckhardt als „vernetzte, kapitalgewordene Gesellschaftsexistenz“ beschreibt.
Was bedeuten diese kulturtheoretischen, philosophischen Betrachtungen für die Praxis der Kommunikation? Kann man von Kommunikationsverantwortlichen in Unternehmen verlangen, sich aus dem Kanal-, Format- und Content-Wirrwarr ihres Tagesgeschäfts herauszuziehen und zu überlegen, wohin sich eine Aufmerksamkeitsökonomie in ihrer digitalen „Perfektion“ bewegt?
Ich würde es empfehlen. Denn die komplette Abgabe der Verantwortung an Analytics bedeutet auch die Entkoppelung von gesellschaftlicher Teilhabe, das Ende des mündigen Produzenten und Konsumenten. Ganz abgesehen davon, dass sich damit ein wertvoller, stabilisierender Teil der Branche selbst abschafft.