
Wetten auf die Zukunft
Kapitel 1 | 2002: Eine teuflisch gute Spielidee
Es begab sich im Sommer des Jahres 2002. Der Euro war noch kein Jahr alt. Joschka Fischer wurde zum ersten Einzel-Spitzenkandidaten von Bündnis 90/Die Grünen aufgestellt. Astrid Lindgren starb im Alter von 94 Jahren. Kanzler war ein gewisser Gerhard Schröder. Borussia Dortmund wurde zum sechsten Mal deutscher Meister. Titan Oliver Kahn erlitt seine bis dahin größte Niederlage im WM-Finale gegen Brasilien.
Gott und der Teufel saßen in ihrer Stammkneipe im Stühlinger, wie jeden Donnerstag. Gott sprach über Gott und die Welt. Der Teufel über weiß der Teufel was. Ihr Afterwork-Treffen gab es schon seit vielen Jahrhunderten und der Preis für ihre Unsterblichkeit war unendliche Langeweile. Freiburg, schon damals Sehnsuchtsort der Gemütlichen, Selbstzufriedenen und Wohlstandsverwahrlosten, tat sein Übriges: Die beiden hatten sich kaum etwas Neues zu erzählen. Alles schien schon gesagt.
„Es ist schon ein Elend“, stöhnte der Allmächtige und nippte an seinem Capuccino Chai Latte al forno mit Schuss und Dachterrasse. „Wir sitzen hier wie ein altes Ehepaar und öden uns an. Ich kenne alle deine Tricks, Satan. Und du kennst alle meine Geschichten. Soll das jetzt für immer so weitergehen?“
Der Teufel saugte zwei Mal heftig an seiner halbelektrischen Gauloise ohne Filter, wartete bis der Dampf sich gelegt hatte und entgegnete: „Du hast Recht. So kann es nicht weitergehen. Dieses Rumhängen geht mir auf die Hörner.“
„Und deswegen, oh Gott, sage ich dir jetzt mal etwas, was mir schon lange auf der Seele brennt.“ Gott konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wenn er den Luzifer mit theologischem Vokabular erwischte, aber er war selbst zum Spotten zu träge. Und so fuhr der Teufel fort: „Mein lieber Allmächtiger, das, was ich dir jetzt sagen werde, wird dir nicht gefallen. Aber ich sage es dir als Freund.“ „Das hört sich gefährlich an, aus deinem Mund, jedoch: Ich kann es kaum erwarten“, entgegnete Gott und nahm einen Schluck Wasser.
„Oh mein Gott“, sprach der Teufel bedächtig, „du langweilst dich, jedes Jahr ein bisschen mehr. Warum? Weil Du einer fundamentalen Täuschung unterliegst. Du denkst nämlich, Du hast alles im Griff. Unter Kontrolle. Alles liegt in deiner Hand. Und ich sage dir: Du liegst sowas von falsch. Denn Du hast gar nichts im Griff. Nicht mal in der Frühzeit, im eher schlichten Mittelalter, in der Renaissance…und was ab der Aufklärung passiert ist, das hast Du glatt verpennt. Du hast nichts mehr im Griff und wenn Du jetzt das Gegenteil behauptest, dann beweist das nur eins: Deine größte Lebenslüge.“
Gott, der sich die letzten 2000 Jahren nur selten aus der Ruhe hatte bringen lassen, war von seinem Kumpel Luzifer ja schon einiges gewohnt. Meistens nur billige Provokation, nichts, was einen Allmächtigen und Gründer mehrerer Weltreligionen aus der Ruhe bringen konnte. Aber was hatte er da gerade gesagt? Für einen kurzen Moment löste der Herr sich aus seiner Lethargie und fixierte seinen Gesprächspartner: „Was sagst Du da? Du behauptest, ich habe die Sache nicht mehr im Griff? Wie meinst Du das?“
Der Teufel ließ ihn ein bisschen zappeln, dann legte er nach: „Es gibt da etwas neben dir, das du schlicht und einfach nicht sehen willst. SIE ist das Gegenteil eines göttlichen Plans.“
„Was?“ stieß Gott aus, „eine SIE? Eine Frau? Eine Göttin…neben mir?“ In dem Moment war der göttliche Energievorrat für Emotionen und Konflikte aber bereits wieder verbraucht, Gott streckte sich erschöpft auf sein 68er-Retro-Sofa und gab der Bedienung ein Zeichen für den nächsten Chai Latte al forno.
„Sie, die dafür sorgt, dass weder du noch ich früher, heute oder in Zukunft irgendetwas im Griff haben, trägt den Namen KOMPLEXITÄT.“ Und in der nächsten halben Stunde erklärte der Teufel Gott, was er über diese mystische Macht, die Göttin der Ungewissheit, die Komplexität herausgefunden hatte. Und er, Satan, hatte Recht: Was er sagte, gefiel Gott ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Gott bekam zunehmend schlechte Laune, spürte einen Anflug von Migräne und irgendwas zwischen Burnout und Bore-out.
Dem gehörnten Komplexitätserklärer war das bewusst und ihm war auch klar, dass er jetzt die Kurve kriegen musste. „Lass jetzt nicht den Kopf hängen, Kollege. Wir drehen den Spieß einfach um. Wir schlagen der Komplexität ein Schnippchen!“
„Wie soll das gehen?“ entgegnete der Rechteinhaber der Bibel, des Koran und des Talmud. „Alles, was Du mir gerade von dieser Komplexität erzählt hast, klingt furchtbar, angsteinflößend, frustrierend.“ „Aber nicht, wenn wir daraus ein Spiel machen, mein Lieber: Ein Spiel, das uns beiden so viel Spaß machen wird, wie wir es seit Jahrhunderten, ja vielleicht noch nie seit Anbeginn der Zeit hatten.“
Und so eröffnete ihm Luzifer seine Spielidee. Das Spiel trug den Namen „Wetten auf die Zukunft“ und bestand im Kern darin, dass sich die Herrscher von Himmel und Hölle nach dem Zufallsprinzip eine Gruppe von Menschen aussuchten, die etwas gemeinsam erreichen wollten. Auf deren Ziele schlossen sie dann langfristige Wetten ab.
Und für die erste Spielrunde, die auf 20 Jahre angelegt war, hatte ihnen der Zufall zwei Agenturgründer aus Freiburg zugelost. Die beiden Unternehmer in spe trugen die Namen Städtler und Wehrle.
Kapitel 2 | 2012: Boxenstopp im Wettbüro
Zehn Jahre waren vergangen. Im Wettbüro „Himmel & Hölle“, im 32. Stock des knallroten „Lucifer Tower“ auf der Freiburger Bahnhofsmeile herrscht Hochbetrieb. Gott und der Teufel sitzen gut gelaunt in Vitra-Sesseln und schauen auf das vergangene Quartal zurück. „Die Zahlen sind sehr erfreulich“, kommentierte der Allmächtige und genoss den Blick auf den Schwarzwald. „Die Idee mit dem Wettbüro – ich muss schon sagen – das war ein Geniestreich!“
„Tja“, antwortete der Gottseibeimir lächelnd, „so ist das, wenn man sein Hobby zum Beruf macht. Ich habe es einfach gespürt, dass du und die Menschen es wollen: Ablenkung von dem, was sie anstrengt, worüber sie wirklich hart nachdenken müssen, wo sie sich vielleicht sogar wirklich verändern müssen. Und wenn man diese lästige Komplexität schon nicht wegkriegen kann, dann muss man sie halt überlisten.“
Gott blickte halb fasziniert, halb schaudernd auf seinen Mitgesellschafter: Schon nach zwei Jahren persönlicher „Wetten auf die Zukunft“ hatten die beiden auf Vorschlag von Luzifer eine erste UG namens „Wettbüro Himmel & Hölle“ gegründet. Daraus war dann schnell eine GmbH und wiederum zwei Jahre später eine Aktiengesellschaft geworden. Gott hatte seine Gewinne aus dem Börsengang der katholischen Kirche, dem Dalai Lama und dem Islamischen Staat gespendet, der Teufel hatte eine Stiftung für hochbegabte Egozentriker und Narzist:innen ins Leben gerufen.
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin“, fügte der Herrgott hinzu, „dass Du mir damals reinen Wein eingeschenkt hast. Du hast mich ein für alle Mal von dieser Illusion und von diesem Druck befreit, alles im Griff haben zu müssen. Es lebt sich einfach so viel angenehmer ohne Verantwortung, ohne Moral, ohne Gewissen.“
Der Teufel hörte das mit großem Vergnügen. Und sah in diesem Moment noch eine Akten-Notiz im Quartalsbericht. „Oh mein Gott, wir haben da noch was vergessen. Erinnerst Du dich noch an unsere allererste Wette, 2002, die mit den zwei Agenturgründern?“ „Ah, doch, ja, jetzt fällt’s mir ein, das waren Statler und Waldorf!“ „Nein“, lachte der Teufel, „Statler & Waldorf“ das waren die zwei alten Grantler aus der Muppet Show – unser Pärchen, das waren Städtler & Wehrle.“ „Ja, genau, natürlich, nicht nur ihre Namen waren ähnlich, die Ideen, die die damals hatten, waren jeweils ausgesprochen gewagt.“ „Und gestritten haben sie sich auch – ziemlich heftig sogar.“ „Nur dass die weniger Humor hatten als die Muppets-Opas.“ „Was ist denn nun aus deren Firma geworden“, fragte Gott, „ich hab‘ die beiden völlig aus den Augen verloren.“
„Steht alles hier im Wettreport“, so der Teufel und blätterte durch einen mittelgroßen Stapel Papier. „Aber erstmal möchte ich dich daran erinnern, dass Du damals gewettet hast, dass dieses Unternehmen – wie hieß es gleich wieder – SpielPlanVier – mindestens 20 Jahre alt wird. Die Wette habe ich natürlich liebend gerne angenommen. Wo doch jeder weiß, dass 98% aller solcher Gründungen nach ein paar Jahren über den Jordan gehen.“
„Ich erinnere mich noch an die Anfangsphase, da hatten wir ja immer ein Auge auf die beiden. Es war skurril, die Company hieß ‚SpielPlanVier – Städtler & Wehrle Kultur GmbH‘. Was, zum Teufel, soll das überhaupt sein, eine ‚Kultur GmbH‘?“ „Am Anfang gleich ne GmbH gegründet, ein paar alte Kunden aus Städtlers Selbstständigkeit und von den Werbekunden vom Wehrle reingeholt und dann alles Mögliche probiert, so nach dem Prinzip Hoffnung plus Gemischtwarenladen…“
„Ja und heute“, fragte Gott, „gibt’s den Laden noch?“ – „Sieht so aus“, sagte der Teufel, „aber letztes Jahr 2011, da wurde es richtig eng. Da musste Städtler den zwei festen Mitarbeitern kündigen, seinen Vater anpumpen…und was les‘ ich hier: Auch noch den Bausparvertrag seiner Frau der Bank in den Rachen schmeißen. Der Wehrle war übrigens schon fünf Jahre vorher raus aus der Firma…“ – „…lass mal sehen, hatte der Städtler denn keine Berater, die ihm da helfen konnten?“ „Doch, Steuerberater, Rechtsanwalt, Unternehmensberater: Alle waren sich relativ einig, dass der Städtler das doch besser sein lassen sollte. Hier steht’s: Geh‘ zu Testo, oder SICK oder Haufe und mach‘ da irgendwas mit Kommunikation, das kannst Du doch.“ – „Aber der Typ kann wohl stur sein, er macht weiter, und die letzte BWA aus diesem Jahr sieht auch gar nicht so schlecht aus.“
„Die Wette gefällt mir, oh Ex-Allmächtiger und Mitgesellschafter, ich denke, das werden noch mal ein paar unterhaltsame Jahre. Möge der Glücklichere von uns beiden gewinnen!“
Und so legten sie Rudi Carrells Komplexitäts-Hit „Lass dich überraschen!“ auf ihren Wettbüro-Vintage-Plattenspieler und amüsierten sich weiter über die absurden Geschäftsideen, Akquise-Strategien und Projekte von Events bis Sponsoring, von PR bis A-cappella-Musik.
Nach einiger Zeit mussten sie dann abbrechen, denn der nächste Termin nahte: Ein Gespräch mit einem potenziellen neuen Gesellschafter, von dem der Teufel in höchsten Tönen geschwärmt hatte. „Der hat alles, was wir für den Ausbau von Himmel und Hölle brauchen: Größenwahn, souveränes Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit, keinerlei Skrupel und unendlich viel Geld.“
Da öffnete sich auch schon die Tür, der Gast trat ein und der Teufel lief ihm freudig erregt entgegen: Elon, so good to see you in Freiburg!
Kapitel 3 | 2022: Boxenstopp im Wettbüro
Das ist sie also, die Hölle, dachte sich der Teufel. Aber wer war in diesem Spiel überhaupt der Teufel?
Nach der Übernahme des „Wettbüros Himmel und Hölle“ hatte der Wettspaß für die beiden Gründer ein Ende. Während sich der Aktienkurs und die Gewinne in schwindelerregende Höhen bewegt hatten, war der Spaßfaktor für alle Mitarbeitenden, die Elon Musk nicht gefeuert hatte, auf ein Minimum gesunken.
Der Druck auf Teufel und Gott, in ihren Management-Funktionen die Quartalsziele immer wieder zu steigern, brachte die beiden ordentlich ins Schwitzen. „Das mit der Komplexität läuft hier komplett aus dem Ruder“, dachte sich der Teufel beim Blick auf die immer neuen Krisen. „Ich pack‘ das einfach nicht mehr, diesen Stress…“
Im Großraumbüro gegenüber saß Gott, der die Komplexität weiter komplett ignorierte und sich mit den neuen Eignern bestens arrangiert hatte. Unter anderem hatte er Musk und sein Berater-Team in die Kunst des „Gott-Modus“ eingeführt, wofür ihm Elon ein von seiner Sekretärin handsigniertes „Ich bin Freiburger“-T-Shirt geschenkt hatte.
Gott schaute also auf sein Werk und war zufrieden. „Herrlich, diese Ungewissheit, die mir am göttlichen Gesäß vorbei geht. Faszinierend, diese immer absurderen Wetten, die sich die Leute ausdenken: Flug zum Mars, Tourismus zur Titanic, staatenlose Inseln im Privatbesitz, New Work und so Vieles mehr, von dem wir als Gründer von „Himmel und Hölle“ nicht zu träumen gewagt hätten.“
Und um das Ganze perfekt zu machen, schien auch noch die 2002er-Wette auf Spielplan4 in seine Richtung zu laufen. Noch ein Dreivierteljahr muss Städtler durchhalten, das sah gut aus. Ganz anders sein Mitgründer: Der Teufel sah richtig schlecht aus, fast tat er dem Grundgütigen ein bisschen leid. Aber nur fast. Denn Wettschulden, das weiß jeder, sind Ehrenschulden.
23.06.2023 | Aus dem Unternehmertagebuch
Herzlich willkommen im Hier und Jetzt, liebe Leserinnen und Leser, herzlich willkommen in der Welt des sicher\anders. Früher, so sagte man ja, hat Gott über die Pläne der Menschen gelacht. Und tatsächlich muss man sagen: Wenn wir Unternehmer gründen, dann passiert fast jedem diese große Täuschung.
Wir glauben wirklich, dass wir die Zukunft planen können. Es brauchte schon eine weltweite Pandemie, um uns allen, der ganzen Gesellschaft vor Augen zu führen, was Komplexität tatsächlich bedeutet. Dass alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt und dass niemand, keine Unternehmerin, kein Wissenschaftler, keine Politikerin, kein Investor und keine Bürgerin diesen Wirrwarr direkt beeinflussen und steuern kann.
Ob es Gott oder den Teufel gibt, das überlassen wir besser den Theologen und Philosophen. Was es in einer komplexen Welt und einer entsprechend immer schwerer steuerbaren Wirtschaft nicht mehr gibt, ist der „Heroic Leader“, der heldenhafte Führer, der mit seinen Superkräften alle Probleme seiner Organisation im Alleingang löst.
Aber wie funktionieren dann Organisationen in der Zukunft? Ist das Gründen eines Unternehmens tatsächlich nur eine Wette auf die Zukunft?
Nun muss man sagen: Die Wette hat – ich habe es in den letzten Minuten angedeutet – einen mittelmäßigen bis katastrophalen Ruf. Man denkt an Spielsucht, Spekulantentum, sinnfreie Bereicherung, Wettbetrug usw.
Was genau ist das denn, eine Wette? Wikipedia sagt dazu Folgendes:
„Eine Wette bezeichnet einen Vertrag, durch den zur Bekräftigung bestimmter, einander widersprechender Behauptungen ein Gewinn oder Sieg für denjenigen vereinbart wird, dessen Behauptung sich als richtig erweist.
Häufig betrifft die Wette eine Behauptung über das künftige Eintreffen eines in bestimmter Weise definierten Ereignisses. Die Wettpartner sind dabei bemüht, unter Berücksichtigung objektiv oder subjektiv zugänglicher Informationen den wahrscheinlichsten Fall des Ausganges „vorherzusehen“, meist ohne den tatsächlichen Ausgang des Ereignisses zu kennen.“
Wer also, wie Florian Städtler und Harald Wehrle vor über 20 Jahren, ein Unternehmen gründet, schließt durchaus eine Wette ab. Der Wett-Gegner ist die Realität und ihre Schwester, die Komplexität. Beide sind unsterblich, sie gehen nicht weg. Und weil das so ist, ist es gar nicht so eine schlechte Idee, spielerisch mit den beiden schwierigen Schwestern umzugehen.
Eine zweite Sache ist sicher: Das Spiel mit der Komplexität gewinnt man nicht mit kausalem, linearem Denken. (Wenn ich A tue, passiert zwingend B.) Menschen, Menschengruppen, Organisationen sind einfach nicht kausal und linear steuerbar.
Weil Menschen in Unternehmen das nicht verstehen, gibt es Business-Theater, wohin man schaut. Der Business Plan als erzwungene Lüge. Die Zeiterfassung als Ausdruck einer Kontroll-Illusion. Und das Mitarbeitergespräch als eine routinierte, aber sinnlos abgespulte Pflichtübung.
Wenn man sich Unternehmen als komplexe soziale Systeme anschaut, dann entdeckt man jede Menge Dilemmata, Paradoxe, Überraschungen und unauflösbare Widersprüche. Dazu kommen unzählige Denkfehler, die unser Gehirn macht, das sich ja in den letzten Jahrtausenden nur relativ geringfügig verändert hat, zum Beispiel um Komplexität zu reduzieren.
Oh mein Gott und zum Teufel, wenn das wirklich alles so ist – wie funktioniert sie dann trotz allem, die Organisation? Dazu kann ich aus meiner bescheidenen Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte nur sagen: Man kann funktionierende Organisationen nicht am Reißbrett planen. Wenn man sich aber Organisationen, die über lange Zeit Leistungen oder gar Höchstleistungen für Kunden erbringen, anschaut, dann kann man durchaus Muster beobachten.
Ich kann nicht sagen, wie Unternehmen funktionieren. Aber ich kann in den paar restlichen Minuten dieser Geschichte mit Euch teilen, wie wir bei Spielplan4 bis heute versucht haben, den Ausgang unserer Wette auf die Zukunft positiv zu beeinflussen.
- Wir leisten gemeinsam. Das heißt, wir ergänzen uns gegenseitig und können nur als Leistungsgemeinschaft vernünftige Arbeit für Kunden erbringen.
- Wir unterscheiden nicht zwischen „High Performern“ und „Low Performern“: Wir sprechen von Höchstleistungsorganisationen, also einer Struktur, die den Erfolg vom Beitrag und der Persönlichkeit des oder der Einzelnen möglichst unabhängig macht. Wir glauben, dass fast alle Menschen einen wichtigen Beitrag leisten wollen und können – wenn man ihnen denn den richtigen Rahmen bietet und die passende Rolle gibt. Das mit der Unabhängigkeit vom Einzelnen, die lebenswichtig für die Organisation ist, gilt dann irgendwann und besonders auch für den Gründer oder die Unternehmerin. Je weniger sein Fehlen auffällt, desto höher ist die Überlebenswahrscheinlichkeit der Organisation.
- Wir behandeln alle als Erwachsene. Kinder und Pubertierende brauchen hin und wieder klare Grenzen. Wenn man erwachsene Mitarbeitende wie Kinder reguliert, werden die sich auch so benehmen. Also lassen wir alle infantilisierenden Spielchen und Moden weg und lassen jedes Team-Mitglied so viel wie möglich selbst entscheiden. Ich will nie wieder einen Urlaubsantrag freigeben müssen. Oder gefragt werden, ob sich ein Kollege eine neue Tastatur bestellt. Das und natürlich auch viele sehr viel wichtigere Dinge können die inzwischen alles selbstverantwortlich entscheiden – weil sie es üben durften.
- Wir arbeiten mit Leistungspartnern. Man könnte natürlich auch Dienstleister sagen, oder Lieferanten. Uns gefällt Leistungspartner besser, weil auch hier die gemeinschaftliche Wertschöpfung, der gegenseitige Respekt und das Aufeinander-Angewiesensein drinsteckt.
- Der Chef macht den Weg frei. Soll heißen: Die wichtigste, entscheidende Aufgabe einer Führungskraft bei uns ist es, den Kolleginnen und Kollegen Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Das kann ein Geschäftsführer sein, der unnötige Regeln, Praktiken und Bürokratie abschafft. Oder eine IT-begabte Kollegin, die dafür sorgt, dass Hard- und Software reibungslos funktionieren. Oder der aktuelle Praktikant, der eine perfekte Übergabe an seine Nachfolgerin vorbereitet. Dann ist tatsächlich auch dieser Praktikant eine wertvolle Führungskraft.
- Wir streiten fröhlich. Wer neu ins Team kommt, erschrickt schon mal. Wir können, wenn es um etwas geht, sehr kontrovers diskutieren. Der eine ist sich seiner Sache absolut sicher, die Kollegin sieht das anders. Das haben wir geübt, explizit gemacht und für uns als wertvolle Kulturtechnik etabliert. Und die Neuen entspannen sich dann auch schnell wieder, wenn sich die konstruktiven Streithähne an der Kaffeemaschine in die Rippen boxen und über den Konflikt und sich selbst lachen können.
- Wir lassen uns vom Markt lenken. Manche sagen auch: Wir lassen uns vom Markt erziehen. So haben wir gelernt, dass es für einige Jahre sehr gut war, sich voll auf das Eventgeschäft zu fokussieren, weil wir dadurch ein wirklich scharfes Profil nach außen geschaffen haben. Inzwischen hat uns der Markt signalisiert: Es braucht mehr Diversifizierung. Und so bieten wir vermehrt integrierte Kommunikations-Pakete an. Von der strategischen Kommunikationsberatung über eine Content-Manufaktur bis hin zur Experience, dem Erlebnis in Form z.B. unserer bisherigen Kerndisziplin Events.
- Wir lösen echte Probleme. Lange Zeit dachten wir, dass wir mit Event-Marketing und Kommunikation an sich immer eine B- oder C-Priorität sein werden. Bis wir uns nochmal ganz genau überlegt haben, was die echten, schmerzhaften Praxisprobleme sind, die unsere Kunden haben. Unsere Wertschöpfung funktioniert genau dann am besten, wenn wir scheinbar unlösbare Kommunikations-Probleme bearbeiten. Wenn wir gelingende Kommunikation – ein zu 100% komplexes Phänomen – so wahrscheinlich wie möglich machen.
- Wir bleiben besser klein. Unsere Kunden sind sehr viel größer als wir. Aber viele sind auch viel langsamer. Deshalb brauchen sie uns, mit unseren Leistungspartnern. Das Idealbild, das uns vorschwebt, ist ein Netzwerk aus Profis im Unternehmen, Konzeptionerinnen und Projektleiterinnen aus der Agentur und allen möglichen Spezialist:innen. Solch eine Leistungsgemeinschaft ist sehr wahrscheinlich die erfolgversprechendste Konstellation im Umgang mit komplexen Aufträgen. Deshalb bleiben wir besser klein und wendig. Man kann sich unsere Projekt-Teams vorstellen wie Zellen, die sich je nach Bedarf neu bilden und selbstständig Kundenprobleme lösen.
- Wir zählen uns zur konstruktiven Wirtschaft. „Wirtschaft ist gegen Moral dicht“, so sagte mal ein bekannter, systemtheoretisch geprägter Organisationsforscher. „Wirtschaft ist gegen Moral dicht“ soll heißen: Die Wirtschaft benutzt die Währung „bezahlen oder nicht bezahlen“ und kann mit der Währung „gut und böse“ nichts anfangen. Es seien schlicht und einfach zwei Systeme und man könne vom Unternehmer oder der Unternehmerin nicht verlangen, ein erfolgreiches Unternehmen zu betreiben und dabei gleichzeitig moralisch zu sein. Das ist doch eine großartige Provokation, oder?
Tatsächlich halten wir die Moral, Religion, politische Überzeugung, sexuelle Orientierung und alles, was man sonst noch dem Individuum zuordnet, von der gemeinsamen Leistungserbringung fern. Jeder kann seinen Sinn in der Arbeit sehen, muss aber nicht…und schon gar nicht denselben. Jede kann ihren eigenen Stil ins Team mitbringen, wir versuchen erst gar nicht aktiv, eine Kultur zu gestalten. Das wäre wieder die Falle, der Komplexität durch Steuerung begegnen zu wollen.
Ich habe zum Abschluss dieses Textes nach einem Begriff gesucht, der die Art, wie wir zusammenarbeiten und für die Organisation, das Individuum und die Gesellschaft wertschöpfen, aussagekräftig ist. Dabei hat mir der Austausch mit meinem Freund und Mentor, dem Publizisten Wolf Lotter geholfen. Er spricht von der „konstruktiven Wirtschaft“, den 95% der Wirtschaft im deutschsprachigen Raum, die die eigentliche Arbeit machen, die tatsächlich Transformation gestalten, sich immer wieder, manchmal auch unter Schmerzen, verändern. Es sind vor allem die so genannten Mittelständler, die konstruktiv dafür sorgen, dass Wirtschaft und Arbeit auf Basis eines gesund ausbalancierten Nutzens für Menschen, Unternehmen und Gesellschaft funktioniert.
An dieser konstruktiven Grundhaltung, an dieser konstruktiven Gemeinschaft, die wir seit 20 Jahren genießen und an vielen konstruktiven Wetten auf die Zukunft lohnt es sich, weiter zu arbeiten.
Epilog, 23.06.23, 23:37 Uhr | Wetten, dass…?
An einem geheimen Beobachtungsplatz über dem festlich geschmückten Hof von Spielplan4 saßen Gott und der Teufel. Sie betrachteten die Party und reflektierten die letzten zwei Jahrzehnte noch einmal aus anderer Perspektive. „Was für ‚ne geile Truppe“, flüsterte der Teufel. „Ich verliere ja nicht gerne, aber in diesem Fall…“
Und Gott sprach leise und ohne jede Überheblichkeit: „Lass‘ mal, Luzifer, das war’s noch nicht. Wir spielen noch mal 5 Jahre – OK?“
Der Teufel blickte dem Herrgott tief in die Augen: „Alter, dass du mich nach all den Jahren noch überraschen kannst, ich glaub’s ja nicht. Top, die Wette gilt!“
„Aber eine Bedingung gibt es für die Verlängerung“, sagte Gott. – „Ah, dachte ich mir’s doch, ganz nach dem Motto sicher\anders: es gibt einen Haken“, erwiderte der Teufel. „Und der wäre?“
„Ein schöner Haken, mein Freund“, sagte Gott. „Du besorgst uns zwei VIP-Tickets für die 25-Jahre-Party hier in diesem Hof – versprochen?“
Wenn Ihr, die Ihr das lest, also in fünf Jahren dabei seid, dann werden wir zwei weitere VIPs in unseren Reihen begrüßen dürfen. Die dann hoffentlich sagen: Lass‘ uns konstruktiv auf die Zukunft wetten!