Fachkräftemangel: Wann wird es wieder so wie es nie war?
Wir Deutschen, ja vielleicht wir Bewohnerinnen und Bewohner der westlichen Wohlstandgesellschaften, sind Meister des Jammerns und Klagens. Manchmal hat man das Gefühl, dass jede neue Krise epischer Dimension fast dankbar angenommen wird. Denn Wirtschafts-, Euro-, Klima-, Corona-, Inflations- und Ukraine-Krise – jede dieser Stressphasen bietet für alles, was schiefläuft, schlagkräftige Ausreden.
Auch als Unternehmer hat man es ja nicht leicht: Die Komplexität globalisierter Märkte, die zunehmende Konkurrenz von digitalen Giganten im „Gott-Modus“, die an allen Ecken und Enden wackelnden, weil überoptimierten Logistik-Prozesse, aktuell eine vor kurzem noch kaum vorstellbare Geldentwertung und – ein Klassiker – der immer deutlicher durchschlagende Fachkräftemangel. Letzterer kam ja völlig überraschend, oder?
Man will das alles gar nicht mehr hören, lesen, schauen. Und bei Putins Krieg in der Ukraine kann ich das – psychologisch – auch durchaus nachvollziehen. Fassungslos verfolgte ich Ende Februar fast eine Woche lang das sinnlose, blutige Geschehen in der europäischen Nachbarschaft. Das kann doch nicht wahr sein, war die erste Reaktion. Dann die Erkenntnis, wie naiv ich und viele andere inklusive der politischen Entscheider:innen gewesen waren. Wir sind davon ausgegangen, dass die Vernunft auf unserem Kontinent für immer die Oberhand über Aggression und Gewalt behalten würde.
Als die Kriegsszenen begannen, in meinen Träumen aufzutauchen, habe ich meinen Nachrichten-Konsum auf ein Minimum beschränkt. Es blieb das frustrierende Gefühl der Desillusionierung, der Machtlosigkeit.
Und kurz darauf begegnete mir dieser Romantitel von Joachim Meyerhoff: „Wann wird es endlich wieder so wie es nie war?“ Und der ließ mich noch einmal anders auf den Umgang mit Krisen schauen. Weniger emotional, weniger fatalistisch.
Denn erstens ist es trotz all der genannten Krisen und Katastrophen ja nicht so, dass wir Menschen gar nichts hinkriegen, auf diesem, unseren Planeten. Und selbst wenn man der Meinung ist, dass wir es insbesondere bei Jahrzehnten lang bekannten Problemstellungen wie dem Klimawandel gründlich vermasselt haben: Ich kann zwar meinen Fernseher, meine Nachrichten-Website und Twitter abstellen. Die Welt und all die beschwerlichen Dinge, die das Leben auf dieser Welt und mit 8 Milliarden Menschen mit sich bringt, hat aber keinen Aus-Knopf. Das Programm läuft weiter.
Und wenn wir nicht verrückt oder apathisch werden wollen, dann hilft nur eins: Sich nicht eine Situation zurückzuwünschen, die es so nie gab. Sondern an einer Gesellschaft mitzuarbeiten, die möglichst wenig Leid – noch besser – möglichst viel Freude und Selbstverwirklichung für möglichst viele Menschen bereitet.
Nun ist ein Krieg mit all seinen katastrophalen Folgen eine nicht vergleichbare Kategorie von Krise. Aber auch hier können wir zumindest dazu beitragen, dass das Leid der Menschen etwas gemindert wird, statt das Desaster komplett auszublenden.
Wenn wir auf die Welt der Wirtschaft, der Unternehmen und der arbeitenden Menschen schauen, steht der Fachkräftemangel ganz oben auf der Liste der Sorgen. Auch hier kann ich bei vielen Arbeitgebenden ähnliche Reaktionsmuster erkennen. Zuerst einmal die Naivitätsphase: Vor allem in den langen Boom-Jahren wurde das Problem ignoriert und ausgesessen. Dann die schleichende Entnaivisierung, so etwas wie ein stiller Schock und die Erkenntnis: Es gibt tatsächlich nicht mehr genug Arbeitskräfte – und es werden auch keine blitzartig geboren und ausgebildet werden.
Man rief schon vor Jahren dazu einen neuen Krieg aus: Den „War for Talents“. Und aktuell sieht es so aus, wie bei jedem Krieg. Es gibt vor allem Verliererinnen und Verlierer. Manche apathisch, einige verrückt. Einige der Apathischen hat der Markt schon aus dem System entfernt. Die anderen sind wie verrückt daran, die zu wenigen potenziellen Mitarbeitenden für sich zu gewinnen.
Zum Teil wird dabei ein herrlich absurdes Theater veranstaltet, für das die Personalbranche natürlich auch einen passenden Anglizismus installiert hat: Employer Branding. Die Arbeitgeberinnen-Braut bzw. Bräutigam wird so was von aufgehübscht, da wird Storytelling vom Feinsten betrieben und man fragt sich manchmal, was die zur Schau gestellten Goodies und infantilisierenden Arbeitsumgebungen auch nur im Entferntesten mit Wertschöpfung, Kunden und dem Markt zu tun haben.
Wann wird die Arbeitswelt wieder wie sie nie war? Diese Variante von Meyerhoffs paradoxem Romantitel könnte Inspiration für Gespräche sein, die wir führen sollten. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber untereinander. Die „Young Professionals“, also Berufseinsteiger:innen und Berufsanfänger unter sich. Und natürlich die Arbeitsmarkt-Partner, also die, die Jobs vergeben und die, die welche suchen miteinander.
Ich meine damit jetzt keine besseren Vorstellungsgespräche. Oder KI-gesteuertes Recruiting. Oder noch eine Straßenbahn, die nach Bewerbungen in mittelmäßig attraktiven und durch magere Vergütung diskreditierte Berufen fleht.
Wie wäre es mit einem Schutzraum, in dem die vielfältigen Interessen auf beiden Seiten zum Tragen kommen? Auf dass sich die jungen, nach Selbstverwirklichung und Sinn strebenden Young Professionals in die wirtschaftlichen Gedankengänge einer Inhaberin hineinversetzen können. Und damit die Arbeitgebenden ein tieferes Verständnis für den aktuellen Zeitgeist der Generationen XYZ und Alpha entwickeln, soweit diese Schubladen überhaupt geeignet sind, die bunte Forderungs- und Interessenwelt der Jungen zu beschreiben.
Ich frage mich unter anderem:
- Wieso finden manche Firmen fast gar keinen Nachwuchs?
- Warum gibt es Unternehmen, die mehr Bewerber:innen haben als je zuvor?
- Wie sehr lohnt es sich, in seine Schauseite, die Arbeitgebermarke zu investieren?
- Wo wäre es besser die Arbeitsverhältnisse wirklich von Grund auf neu zu ordnen?
- Wie soll es zusammen gehen, dass junge Arbeitssuchende von heute gleichzeitig einen hohen Grad von Sicherheit und ganz viel Freiheit im Job fordern?
- Inwiefern ist es realistisch, mit weniger „Maloche“ im Stil der Elterngenerationen den aktuellen Wohlstand zu erhalten?
- Wie wäre es denn, wenn wir wieder mehr den Kern der guten Arbeit, das „Im-Job-für-einen-Kunden-wirksam-Sein“ in den Vordergrund zu stellen statt immer mehr „Fluchtverhinderungsmaßnahmen“ vom Obstkorb bis zur absurden Rolle der Feelgood-Managerin zu ergreifen?
Ein erster Testballon eines solchen Gesprächs wird am 28. Juni 2022 in kleiner Runde – 7 Young Professionals, 7 Unternehmensvertreter:innen – bei Spielplan4 stattfinden. Im kleinen Kreis also und in vertraulicher Runde. Wir werden einige dieser Fragen beleuchten, uns besser kennenlernen und schließlich die Gespräche bei einem Abendessen an der langen Tafel fortführen.
Was ich daraus gelernt habe, wird später hier zu lesen sein. Und wie (fast) immer, nach wirklich guten Gesprächen, wird man einen neuen, ermutigenden Blick auf die betreffende Krise werfen. Und so schneller ins Umdenken und Handeln kommen.
Podcast-Tipp
Expedition Arbeit, Sendung 131 „In 80 Fragen um die Arbeitswelt – Berufseinsteiger“ mit Julia Henke, Boris Wehmann und Julias Albrecht.
https://open.spotify.com/episode/6uWXukYQID7A83zwayHQdg?si=58a90a7ec0414fb2