Tschüß, Perfektion. Hallo, Diskurs!
Wir hatten zum 8. Mal eingeladen, um mit Führungskräften über echte Probleme aus der Organisations- und Kommunikationspraxis zu sprechen. „Beyond what’s next?!“ heißt dieses Innovations- und Zukunftsformat und das Thema am 16. April 2024 war das aktuell vieldiskutierte „Hybride Wirrwarr“ der Arbeitswelt.
Mit HR- und Organisationsentwicklungsprofis von u.a. Trumpf-Hüttinger, Jobrad, Testo Industrial Services, Waschbär, TREA, Thermofisher, SICK, Advant Beiten und der FWTM war ein breites Spektrum von Organisationen und Kompetenzen in der Glümerstraße vertreten. Die Perspektiven auf das komplexe Thema „zeitlich und örtlich flexibler Arbeitsverhältnisse“ waren dementsprechend vielfältig und kontrovers.
Julia Henke (JWLS Organisationsberatung), mit der ich den Abend in Form eines Zwiegesprächs eröffnen durfte, hatte mir schon bei den Vorgesprächen immer wieder überraschende Blickwinkel auf die neue, hybride Arbeitswelt aufgezeigt. Einen zentralen Gedanken, der sich im Dialog mit den Praktikerinnen und Praktikern nach und nach herausschälte, möchte ich in diesem Beitrag teilen.
Das Prinzip, das ich im Folgenden beschreibe, gilt meiner Vermutung nach weit über die Beschäftigung mit dem Thema „Hybrides Arbeiten“ hinaus. Aber fangen wir mal von vorne an:
Offensichtlich handelt es sich beim Phänomen „Hybrides Arbeiten“ um ein echtes, relevantes Problem. Dieses Problem manifestiert sich in vielfältigen Schmerzpunkten, sowohl bei Arbeitgebenden als auch bei Arbeitnehmenden. Es herrscht Unsicherheit und Unzufriedenheit, es fehlt Orientierung und klare Regeln. Die nachvollziehbare Konsequenz: Menschen suchen nach Lösungen. Lösungen, die praktikabel und akzeptabel sind, die die Interessen möglichst vieler Beteiligter klug berücksichtigen. Sehr gefragt wäre eine schnelle, universelle Lösung, die das Problem ein für alle Mal abräumt. Ein Patentrezept.
„Wenn ich zum Ende dieser Diskussionsrunde eine Sache betonen möchte“, so Julia Henke an besagtem Dienstag-Abend in der Freiburger Wiehre, „dann ist es diese: Organisationen agieren immer in den Spannungsfeldern der unterschiedlichen Stakeholder. Im Spannungsfeld des Kundenmarkts, des Arbeitnehmermarkts und des Kapitalmarkts. Es gilt also, die Interessen der einzelnen Abteilungen, ihrer Interessenvertreter sowie externen Stakeholdern zu verhandeln. Denn diese Abteilungen sollen ja im besten Fall erfolgreich zusammenarbeiten.“
Was will uns das sagen? Ich beschreibe diese erste These mal mit anderen Worten: Die Organisation mit ihren Mitgliedern ist im besten Fall eine „Kooperationsarena“ (Reinhard K. Sprenger). Man sollte sich aber jederzeit bewusst sein, dass es Spannungen gibt. Diese kleinen und großen Konflikte entstehen aus sich widersprechenden Interessen aller Beteiligten. Dass sich die natürlichen Interessen des Controlling und der Innovationsabteilung widersprechen (müssen), kann man doof finden – es wird aber an der Tatsache, dass es Zweckwidersprüche und damit dauernden Aushandlungsbedarf gibt, nichts ändern.
Julia Henke dazu weiter: „Es wird keine für alle perfekte Lösung geben. Stattdessen wird es immer nur das Ringen um die für die individuelle Organisation und ihre Umwelt-bedingungen in diesem Moment beste Lösung.“
Man könnte auch sagen: Egal, was Sie in Ihrer Firma anpacken, fragen sie zu Risiken und Nebenwirkungen ihren Organisationsentwickler oder die erfahrene Geschäftsführerin. Die werden bestätigen, dass es – egal, was man unternimmt – immer Nebenwirkungen geben wird. Und wenn das für die Patentrezept-Sucher:innen noch nicht ernüchternd genug sein sollte: Leider, leider ist es sehr schwer bis unmöglich, die genauen Neben-wirkungen vorherzusagen.
Aber was tun, um angesichts der Unlösbarkeit komplexer Probleme trotzdem handlungsfähig zu bleiben?
„Das Mittel der Wahl“, so Julia, „sind Diskurse. Gut angelegte und gut moderierte Gespräche können dazu dienen, sich die Perspektiven von denen zu erschließen, auf die man angewiesen ist und an deren Interessen man anknüpfen muss, will man, dass einmal getroffenen Entscheidungen sich auch zur neuen Routine in der Organisation entwickeln.“
Das wechselseitig wachsende Verständnis wird also zur Grundlage gemeinsamen Handelns und zur Basis besserer Entscheidungen. Und hier kam dann mein ganz persönliches Aha-Erlebnis, eine Art von Verständnis-Glücksmoment:
Oft und lange hatte ich im Rahmen der Kommunikationsberatung nämlich darüber nachgedacht, welche Funktion der Diskurs, also die ergebnisoffene Diskussion auf Augenhöhe in einer Gruppe hat. Schlägt man solche Formate vor, wird oft angeführt, dass solche „Labergruppen“ oder „der x-te Workshop“ doch nie zu konkreten, fassbaren Ergebnissen führen. Und nicht selten stimmte das auch: Nach einer oder mehr Stunden intensiven Diskutierens und Argumentierens hatten wir das Problem nicht endgültig und für immer gelöst. Also – so könnte man behaupten – war das Ziel nicht erreicht, die Patentlösung nicht gefunden.
Meine Erkenntnis aus dieser Diskussion und Julia Henkes Impuls ist eine erweiterte Perspektive: Kommunikation in Form von Gesprächen findet in zwei Dimensionen statt. Einmal als „entscheidungsorientierte Kommunikation“. Dabei geht es darum, möglichst effizient und effektiv Dinge in Bewegung zu bringen. In den allermeisten Fällen aber nicht mit Rezepten, Wundermitteln oder Zaubertränken, sondern mit nächsten, praktischen Schritten, gerne auch mal im Experimentier-Modus.
Die andere Funktion von Diskurs ist die „verständnisorientierte Kommunikation“, die ganz bewusst auf den Zwang, etwas zu entscheiden, verzichtet. Hier geht es um die Dimension, die Julia oben beschrieb: Sich neue Perspektiven zu eröffnen, indem man mit anderen wirklich ins Gespräch kommt, intensiv zuhört, sich in das Gegenüber förmlich hineinversetzt und dazu bereit ist, seinen eigenen Standpunkt auf Basis des Gehörten zu ändern. Das ist nichts anderes als gemeinsam zu lernen, um dann bessere gemeinsame, von einem Gremium oder einem Einzelnen getroffene Entscheidungen zu ermöglichen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, dass diese Unterscheidung hilft, für das jeweilige Problem, die jeweilige Situation und die jeweilige Organisation die richtigen Gespräche zu führen und erfolgversprechende Entscheidungen zu treffen.
Und sich zu entspannen, wenn man mal verstanden hat: DIE „richtige“ Lösung für Organisationen, Menschen oder hybrides Arbeiten – die gibt es wohl einfach nicht.
Weiterführende Links
- Link zum Blog-Artikel „Hybrides Wirrwar – Wo, wann, wie lange arbeiten?“ von Florian Städtler
- Link zur Podcast-Episode „Hybrides Arbeiten” von Expedition Arbeit. Moderation Florian Städtler, Interview-Gast Prof. Dr. Johanna Bath
- Link zum LinkedIn-Beitrag „Remote oder nicht remote“ von Patrick Breitenbach (1789 Unternehmensberatung)
Ein Kunstwerk: Die privaten Sketchnotes von Sabine Weber-Loewe (www.visuakademie-freiburg.de), die wir nicht nur fotografieren durften, sondern hiermit auch veröffentlich dürfen. 😍