
Verantwortung in Organisationen: Wer riskiert was? Und warum eigentlich?
Liebe Leserinnen und Leser,
am Dienstag, den 17. Oktober 2023 war es wieder so weit: In der Glümerstraße 2B, dem „Office Studio“ von Spielplan4, trafen sich Menschen, die ein Thema angezogen hatte und die sich auf ein für die allermeisten unbekanntes Format einlassen wollten.
„Gespräche gelingen lassen“, das ist das Motiv hinter der Kombination aus Impulsen, Diskussion in der Gruppe und dem Austausch beim Abendessen an der langen Tafel. Und wieder hatten sich zwei Dutzend Neugierige und Diskussionsfreudige eingefunden, um an diesem Abend mehr über das Thema „Verantwortung in Organisationen“ zu erfahren. Aber auch, um die eigenen Erfahrungen als Unternehmer, Manager oder Führungskraft mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Firmen und Branchen zu spiegeln.
Für alle, die dabei waren, als kleine Gedankenstütze und für die, die es nicht geschafft haben als Inspiration und Impression, habe ich unserem Impulsgeber Philippe Merz, den Gründer und Geschäftsführer der Thales-Akademie für angewandte Philosophie, nach der Veranstaltung noch einmal einige zentrale Fragen zum Thema des Abends gestellt.
Viel Spaß beim Mit- und Weiterdenken.
FSt: Philippe, lass‘ uns auch hier ein wenig mehr Klarheit bezüglich des Begriffs schaffen. Was bedeutet das eigentlich, „Verantwortung übernehmen“?
PM: Wenn wir auf die alltägliche Verwendung dieser Formulierung schauen, würde ich sagen: oft nahezu nichts. Oder zumindest nichts Konkretes und Belastbares. Das liegt einerseits daran, dass der Begriff der Verantwortung ein „thick concept“ ist, also ein dichter Begriff, der ähnlich wie „Freiheit“ oder „Liebe“ nie nur beschreibend ist, sondern der immer auch einen normativen Überschuss hat, weil wir mit ihm ausdrücken, was uns wichtig ist und wie etwas unserer Meinung nach sein sollte.
Andererseits hat aber jede:r genau davon ziemlich eigene Vorstellungen. Und diese Unschärfe nutzen Menschen und Organisationen, um die Redewendung „Verantwortung übernehmen“ primär für folgenlose Appelle, Forderungen an andere oder einfach für die Selbstvermarktung zu nutzen. Dabei ist es gar kein Hexenwerk, den Begriff Verantwortung so zu präzisieren, dass er gehaltvoll und belastbar wird.
Dafür sollten wir vier Beziehungsebenen mit Leben füllen. Erstens: Wer ist verantwortlich? Für was ist er/sie/es verantwortlich? Gegenüber wem? Und anhand von welchem Maßstab – also etwa einem ökonomischen, juristischen oder ethischen Maßstab?
FSt: Teilweise lässt sich Verantwortungsübernahme in Organisationen im wortwörtlichen Sinne „förmlich“ erzwingen – mit einem Arbeitsvertrag. Worin liegen aber die Grenzen dieser formellen Verpflichtung?
PM: Die sind überraschend schnell erreicht. Und das, obwohl das Arbeitsrecht die wohl am dichtesten regulierte Dimension unserer Rechtsordnung ist. Natürlich kannst du Beschäftigte in Abhängigkeit von ihrem Stellenprofil und ihren Fähigkeiten für konkrete Aufgaben, Ziele und sogar Ergebnisse verantwortlich machen oder sogar sanktionieren.
Aber mit keinem Arbeitsvertrag der Welt kannst du sie zwingen, sich aus eigener Motivation und Überzeugung für die gemeinsame Sache einzusetzen. Dazu braucht es die Mischung aus sinnstiftenden Tätigkeiten, regelmäßigen Wirksamkeitserfahrungen, guter Führung und einer inspirierenden Vision.
FSt: Unternehmen tragen Verantwortung für ihre Mitarbeitenden. Was bedeutet das für Inhaberinnen und Führungskräfte? Und inwiefern tragen auch die Mitarbeitenden eine Verantwortung für ihr Unternehmen?
PM: Schauen wir uns diesen Satz, dass Unternehmen Verantwortung für ihre Mitarbeitenden tragen, mal genauer an. Das „Wer“ und das „Gegenüber wem“ sind ja schon erfreulich klar. Unklar sind noch die beiden anderen Beziehungen: Wofür und anhand von welchem Maßstab? Erst, wenn wir diese beiden Facetten präzisieren, wird daraus eine diskutierbare und beantwortbare Frage.
Wenn ich beispielsweise frage, welche juristische Verantwortung (Maßstab) Unternehmen für ihre Beschäftigten mit Blick auf Fragen des Arbeitsschutzes im Sinne der körperlichen Unversehrtheit (Wofür) tragen, ist das eine Debatte, die ich lustvoll und mit vielen Differenzierungen führen kann. Und hoffentlich sind danach alle klüger, empathischer und haben vielleicht auch ein paar neue Fragen und unterschiedliche Meinungen entdeckt.
Wenn ich allerdings frage, welche ethische Verantwortung Unternehmen für das seelische Wohlergehen ihre Mitarbeitenden tragen, führe ich eine andere Diskussion. Dann geht es eher um wünschenswerte Führungsstile, um den Umgang mit Überlast oder um Möglichkeiten der Weiterentwicklung.
Viele Missverständnisse und Frust im Umgang mit Verantwortungsfragen kommen daher, dass erstens nicht geklärt wird, über welche Facetten von Verantwortung eigentlich gesprochen werden soll und zweitens die Menschen ihre Erwartungen, die sie aneinander und an die Organisation haben, nicht explizit machen. Wenn sie dies jedoch in eigens dafür vorgesehenen Austauschformaten tun können, entfaltet das oft eine befreiende und motivierende Kraft. Klarheit ist Trumpf – zwischenmenschlich ebenso wie inhaltlich.
FSt: Warum übernehmen Menschen im Privaten große Verantwortung, in ihrer Organisation aber – scheinbar – weniger?
PM: Ui, da würde ich mich auf das „scheinbar“ konzentrieren. Ich kenne nämlich keine aussagekräftige Studie, die diese Wahrnehmung belegt.
Mir scheint, hier sollten wir eher aufpassen, dass wir nicht zu sehr dem Prinzip der anekdotischen Evidenz folgen, so nach dem Motto: Meine zwei Lieblingskolleginnen und ich waren uns einig und dann war da doch neulich dieser eine Zeitungsartikel, der was Ähnliches berichtet hat… Von dort ist es nicht mehr weit zu fragwürdigen Verallgemeinerungen, bei denen wir dann bspw. einer ganzen Generation die Arbeitslust und Einsatzbereitschaft absprechen. Stichwort „Generation Z“.
Mir persönlich scheint beispielsweise, dass die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme auch im Privaten nachlässt, etwa zum ehrenamtlichen Engagement in Sport- oder Musikvereinen, und das durchaus auch bei Menschen jenseits der 40. Aber auch das ist erstmal nur anekdotische Evidenz aus meinen persönlichen Erfahrungen.
FSt: Wie kann man denn Verantwortungsübernahme garantiert verhindern? Gibt’s so etwas wie „Verantwortungs-Killer“?
PM: Na klar. Klassische Beispiele wären: Übertrag‘ jemandem eine Aufgabe mit der Vereinbarung, dass er oder sie echte Ende-zu-Ende-Verantwortung übernehmen kann – und mach es am Ende doch selbst, weil du mit dem Ergebnis nicht zufrieden bist.
Oder etabliere so viele Regeln und enge Handlungsradien, dass die Menschen den Eindruck haben, nicht mehr frei atmen zu können und freiwillige Verantwortungsübernahme gar nicht erwünscht ist. Oder probier’s mit dem Gegenteil und unterlasse es zu klären, wie weit Verantwortungsradien bei bestimmten Aufgaben und Rollen gesteckt sind, sodass niemand mehr weiß, was genau er darf, soll und muss.
Diese Unklarheit kann sogar noch lähmender sein als zu enge Verantwortungsradien. Kurzum: Die Möglichkeiten, es mit der Verantwortungsbereitschaft und Verantwortungsübernahme zu versemmeln, sind zahlreich.
FSt: Die Unternehmen suchen – teils verzweifelt – Arbeitskräfte. Die junge Generation wünscht sich vom Arbeitgeber gleichzeitig große Freiheiten und ganz viel Sicherheit. Was beobachtest Du und wie sollen die beiden Seiten damit umgehen?
PM: Ich beobachte, dass sowohl die jeweilige Kultur eines Unternehmens immer wichtiger wird als auch die Frage, ob junge Fach- oder Führungskräfte solche Tätigkeiten und Rollen übernehmen können, die sie als sinnstiftend erleben. Wenn ich als Unternehmen auf diesen beiden Spielfeldern nicht punkten kann, wird es schwer, das auf den Spielfeldern „Gehalt“ und „Aufstiegschancen“ noch auszugleichen.
Zugleich beobachte ich, dass manche Unternehmen in ihrer Verzweiflung in der Bewerbungsphase Erwartungen zur Kultur und zu persönlichen Freiheiten wecken, die sie nach der Einstellung nicht erfüllen können. Das führt vielleicht dazu, dass diese Menschen zunächst zusagen, aber schon nach kurzer Zeit frustriert sind, geringere Leistung erbringen oder die Organisation schnell wieder verlassen.
Statt auf diese Weise viel Zeit, Energie und Geld zu verbrennen, rate ich zu einer ehrlichen Erwartungsklärung von Beginn an: Was können die Menschen bei uns berechtigterweise mit Blick auf Kultur, Wirkungsmöglichkeiten und Entwicklungschancen erwarten? Und was erwarten wir umgekehrt von ihnen? Um diese Fragen mit Bewerber:innen zu besprechen, müssen sie allerdings zunächst intern geklärt werden, insbesondere im Führungskreis.
FSt: Im Employer Branding spielen Begriffe wie „Leistung“, „Verantwortung“ und „Wertschöpfung“ eine eher untergeordnete Rolle. Stattdessen wird viel über „Purpose“ und Benefits gesprochen. Was bedeutet das für das zukünftige Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer?
PM: Diese kommunikative Einseitigkeit darf uns ruhig ein bisschen skeptisch machen. Organisationen, die eindeutig gewinnorientiert sind, manchmal sogar auf Gewinnmaximierung setzen, aber permanent über ihren Purpose reden, als wären sie Amnesty International, nutzen ihren angeblichen Purpose vielleicht eher als Mittel zum Zweck des Reputationsmanagements, der Kundenbindung und damit letztlich für ökonomische Ziele.
Auch hier halte ich Klarheit und Ehrlichkeit für die besseren Ratgeber, nicht zuletzt im strategischen Eigeninteresse: Es senkt die Gefahr von enttäuschten Beschäftigten und Reputationsschäden.
FSt: Vielen herzlichen Dank, lieber Philippe.
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